One Of The Good Ones

One Of The Good Ones

Maritza Moulite und Maika Moulite

Kezi stirbt in einer Gefängniszelle, nachdem sie bei einer Demonstration für die Rechte Schwarzer Menschen festgenommen wurde. Ihre Schwestern Happi und Genny begeben sich in ihrem Andenken gemeinsam mit zwei Freunden auf eine Reise quer durch die USA, die Kezi selbst noch geplant hatte, und folgen dabei dem Green Book, einem Reiseführer, der Schwarzen Reisenden während der Zeit der Rassentrennung angab, wo sie unbehelligt tanken, essen oder übernachten konnten.

Ein Roadtrip-Roman über Rassismus in den USA, eine spannende Geschichte durch das alte und neue Amerika, ein anregendes Plädoyer für politischen Aktivismus und Empowerment von unterdrückten Stimmen.

Loewe Verlag, 2021

ISBN:
9783743211551
Preis:
14,95€

Aus dem Englischen von Constanze Wehnes und Silvia Kinkel

Leseprobe

Happi

Donnerstag, 26. Juli – 3 Monate und 9 Tage seit der Festnahme

Chicago, Illinois

Sie gehörte mir, bevor sie irgendjemandem sonst gehörte. Ganz mir. Teilweise mir. Jetzt gehört sie dir und euch und T-Shirts und Demos und Songs und Dokumentationen. Es heißt, sie hätte eine strahlende Zukunft vor sich gehabt und sei ein Stern gewesen, dessen Licht zu früh erlosch. Sie hätte die Welt verändert. Das stimmt alles, aber es ist nicht die ganze Wahrheit. Kezi war mehr als die Summe aus ihrer Intelligenz, ihren Schulnoten und ihrer Stimme. Sie war mehr als ihre Zukunft. Sie hatte eine Vergangenheit. Sie lebte ihre Gegenwart.
Sie hätte mir gehören können.
Mir gehören sollen.
Schließlich war sie meine Schwester, bevor sie eure Märtyrerin wurde.
Selbst wenn ich reglos dasitze wie eine Löwin, die ihre Beute belauert, rase ich innerlich. Mir schwirrt der Kopf von all den Gedanken, die ich nicht ausspreche. Mein Herz pocht unregelmäßig gegen den Brustkorb, immer nur einen Schlag davon entfernt, ihn zu durchstoßen. Ich müsste daran gewöhnt sein. Aber man gewöhnt sich nie daran, dass Fremde einem solidarisch den Arm um die Schultern legen, sich für etwas entschuldigen, wofür sie nichts können. Schon gar nicht, wenn es sich so unwirklich anfühlt, dass Kezi von uns gegangen ist. Wie sollte es auch anders sein, wenn ich nicht einmal die Chance bekam, ein letztes Mal ihr Gesicht zu sehen, bevor sie ihren Leichnam verbrannten und die Asche in die Urne füllten.
Meine Eltern sind bereits in der Aula, sitzen auf ihren Ehrenplätzen in der ersten Reihe. Ich werde mich zu ihnen gesellen, zögere es aber bis zum allerletzten Moment hinaus. Bis es losgeht. Als alles zusammenbrach, trafen wir eine Vereinbarung. Ich werde mitspielen und eine billige Kopie der Tochter sein, die sie verloren haben, eine beständige Erinnerung der Welt daran, dass sie eine von den Guten gewesen ist. Doch bevor die Scheinwerfer uns anstrahlen und die Handys auf unsere tapferen, traurigen Gesichter gerichtet werden, will ich nur ich selbst sein. Die Verlorene Tochter.
Ich spähe auf mein eigenes Handy. Nichts. War ja klar.
Ich sinke auf die harte Bank draußen vor dem Harold Washington Theater, in dem der Ortsverband Chicago der National Alliance for the Progression of Black People seine jährliche Preisverleihung für herausragende Leistungen veranstaltet. Ich versuche zu atmen. Ich möchte nichts und niemandem die Ehre erweisen. Ich will nicht da drin sein. Ich will einfach nur so tun, als sei diese Holzbank eine Wolke und ich ein ganz normales Mädchen, das draußen sitzt und die letzten Sonnenstrahlen am Ende eines ereignislosen Tages genießt. Man nennt es die goldene Stunde. Das hat mir vor ein paar Wochen ein Fotograf erzählt, während ich darauf wartete, dass meine Mutter geschminkt wurde für ein Fotoshooting des Essence Magazine über »Amerikas neue Bürgerrechtler*innen«. Das neue Normal.
Er fummelte an seiner Kamera herum, nahm die riesige Zoomlinse der Canon ab und steckte sie wieder drauf. Und offenkundig gehörte er zu den Menschen, die Stille nicht ertragen können. Manche Leute sehen mich und müssen einfach etwas sagen. Ich kann die Panik in ihren Augen lesen, wenn ihnen die Erkenntnis ins Bewusstsein kriecht. Komm schon, sag etwas Nettes, bloß nichts Dummes. Aber anstelle der üblichen Es-tut-mir-so-leids und Du-bist-so-tapfers, plapperte er weiter über die magischen Augenblicke, wenn die Sonne aufgeht und kurz bevor sie untergeht. Im Ernst, das war wie ein Schwall frischer Luft.
»Viel weniger Schatten«, sagte er. »Dann kann sich dein Motiv nirgendwo verstecken.«
»Ich glaube, das hat meine Schwester mal erwähnt«, erwiderte ich. »Sie war YouTuberin.«
Entsetzt riss er die Augen auf. Natürlich.
»Ja, klar! Oh Mann. Es tut mir so -«
»Schon gut.« Ich hatte zu früh gesprochen.
Das war damals. Jetzt frage ich mich gerade, wie lange man wohl draußen sitzen muss, bis die Haut dunkler wird, als ich durch meine geschlossenen Lider spüre, dass sich das Licht verändert. Jemand steht vor mir und verdeckt die Sonne. Mein Herz ist kurz davor, meinen Brustkorb, meine Eingeweide, meine Haut, mein Top zu durchstoßen. Wie eine Kugel, nur größer. Ich reiße die Augen auf und schleudere abwehrend meine Handtasche von mir. Dämlich, dämlich, dämlich. Jeder geistesgestörte Fremde kann dich hier draußen erkennen und –
Es ist noch schlimmer, als ich dachte. Es ist Genny.

Weitere Publikationen